Der Speyerer Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann setzt sich für eine radikale Erneuerung der Kirche ein. In einem Brief bittet er die Gläubigen im Bistum Speyer, die dritte Synodalversammlung vom 3. bis 5. Februar im Gebet zu begleiten und ihm in "in aller Offenheit mitzuteilen, wie sie die Kirche erleben und welche Veränderungen sie sich – auch von mir - erhoffen."
In vielen Gesprächen mit Haupt- und Ehrenamtlichen habe er erfahren, "wie fassungslos viele sind, aber auch, wie sehr sie an ihrer Kirche leiden und mit ihrer Kirche hadern" so Bischof Wiesemann. "Auch an mir geht das alles nicht spurlos vorbei. Im Gegenteil. Es erschüttert mich zutiefst, diese Kirche, der ich so viel von Kindheit an verdanke und in der ich großartige Menschen, Laien wie auch Amtsträger, kennen lernen durfte, als tief verstrickten Ort verbrecherischer Taten, unsäglichen Leids und unerklärlichen Versagens erleben zu müssen", bekennt Wiesemann sehr persönlich. Es laste auf seinem Gewissen "die nicht einfache Frage, inwieweit ich, der ich mit so viel Begeisterung und Leidenschaft Priester in dieser Kirche geworden bin, durch falsch verstandenen Gehorsam, durch Wegschauen und Verdrängen, durch fehlende Anteilnahme und Einfühlung mitschuldig an so manchem Leid geworden bin." Ihm sei bewusst, wie sehr "das Vertrauen in die Kirche und auch insbesondere in das Bischofsamt, einschließlich des Petrusdienstes" erschüttert sei. Dieser Glaubwürdigkeitsverlust gehe über die Institution Kirche hinaus bis in den Glauben hinein.
Wiesemann sieht die Kirche in einer existenziellen Krise, die sich vor allem "im eklatanten Widerspruch von christlicher Botschaft und kirchlicher Realität" zeige. "Als Kirche sind wir berufen, Zeichen des Heils zu sein – und doch ist in unserer Mitte so viel Gewalt und Unheil geschehen, vor allem von Menschen, die durch ihre Weihe in besonderer Weise für den göttlichen Ursprung und die Heiligkeit der Institution einstehen sollten. Wir folgen Jesus Christus nach, der sich besonders um Kinder und Schwache gesorgt hat – und unsere erste Sorge galt nicht den Betroffenen sexualisierter Gewalt, sondern dem Ansehen der Kirche. Wir rufen im Namen Jesu zu Umkehr und Versöhnung auf – und doch fällt es uns selbst, und das gilt insbesondere für uns Bischöfe, sichtbar schwer, Verantwortung zu übernehmen, eigenes Versagen einzugestehen und um Vergebung zu bitten. Wir verkünden, dass Gott alle Menschen bedingungslos liebt – und doch haben so viele Menschen in der Kirche tiefgreifende Verletzungen vielfältiger und noch weit über den sexuellen Missbrauch reichender Art erlitten und Ausgrenzung erfahren – bis heute", schreibt Bischof Wiesemann im Brief an die Gläubigen seines Bistums.
Die Gespräche mit Missbrauchsbetroffenen hätten ihm gezeigt, "dass ein fundamentaler Perspektivwechsel notwendig ist", so Wiesemann. "Diesen Perspektivwechsel möchte ich mit aller Kraft vorantreiben." Der Bischof setzt sich für eine konsequente und schonungslose Aufklärung ein. Das schließe auch sein eigenes Leitungshandeln und mögliches persönliches Versagen in den vergangenen 14 Jahren mit ein, so Wiesemann. Im Bistum Speyer erarbeitet eine Unabhängige Aufarbeitungskommission derzeit eine eigene Missbrauchsstudie. Parallel dazu hat Bischof Wiesemann vor einem Jahr die Initiative "Sicherer Ort Kirche" ins Leben gerufen, in deren Rahmen die kirchlichen Einrichtungen im Bistum Speyer eigene Präventions- und Schutzkonzepte entwickeln.
Zur notwendigen radikalen Erneuerung der Kirche gehört aus Sicht des Bischofs auch, "dass wir uns offen und ehrlich den systemischen Faktoren stellen, die sexuellen Missbrauch in der Kirche begünstigt haben und immer noch begünstigen". Deshalb habe er sich nach dem Erscheinen der MHG-Studie innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz mit Nachdruck für den Synodalen Weg eingesetzt: "Einen Weg, den die Bischöfe und alle Gläubigen in gemeinsamer Verantwortung gehen, auf dem es keine Denkverbote und Tabuisierungen geben darf, und an dessen Ende verbindliche Ergebnisse und echte Strukturreformen stehen müssen." Als Mitglied der Synodalversammlung setze er sich für einen anderen Umgang mit Macht und Gewalt, eine Reform der priesterlichen Lebensform, eine stärker an der Lebenswirklichkeit der Menschen und den Erkenntnissen der Humanwissenschaften orientierte Sexuallehre, einschließlich einer Neubewertung der Homosexualität, und die Verwirklichung einer geschlechtergerechten Kirche ein. "All das mit sichtbaren Konsequenzen für die Lehre und Struktur der Kirche, für ihre Verkündigung und Liturgie, für ihre Personalpolitik und ihr Arbeitsrecht", so Wiesemann.
Er bittet die Gläubigen, den "Weg der Erneuerung der Kirche, der sich am Maßstab des Evangeliums und den in diesem Licht erkannten Zeichen der Zeit orientiert, mitzugehen und mit-zutragen". Wäre die Kirche nur Menschenwerk, hätte sie keinen Bestand. "Ich bin aber gewiss, dass Gott die Kirche als die große Gemeinschaft aller, die zu Christus gehören, nicht allein lässt. Das bedeutet aber, dass wir uns mit ganzer Offenheit und dem uneingeschränkten Willen zu mutigen, verändernden Schritten seinem Geist öffnen müssen." Deshalb sei das Gebet so wichtig und die Erfahrung der großen Gebetsgemeinschaft keine Flucht aus der Realität, sondern ganz im Gegenteil "der Beginn einer neuen Wirklichkeit".
Wiesemann dankt in seinem Brief allen, "denen es nicht gleichgültig ist, was mit unserer Kirche geschieht. Dieser wunderbare Schatz des Glaubens, der sich in Ihrem Engagement und in Ihrem Ringen widerspiegelt, ist aller Anstrengung wert." Er wolle versuchen, "mit Gottes Hilfe und Ihrer Unterstützung meine Verantwortung so wahrzunehmen, dass die Vision, die wir für unser Bistum formuliert haben, sich verwirklichen kann." Die Menschen sollen neu erfahren, "dass wir berührt und bewegt von der Menschenfreundlichkeit unseres Gottes Segensort in der Welt sind, und Jesus Christus, der die Armen und Ausgegrenzten in den Mittelpunkt gestellt hat, der Maßstab unseres Handelns ist."