"Wir machen bei der Aufarbeitung des Missbrauchs und der Verbesserung der Prävention im Bistum Speyer große Fortschritte", zieht der Speyerer Generalvikar Andreas Sturm eine Zwischenbilanz der bisher ergriffenen Maßnahmen. Es zeige sich, dass die Bereitschaft, auffällige Verhaltensweisen bei den beiden Missbrauchsbeauftragten des Bistums zu melden, deutlich gestiegen ist. "Ich werte das als einen positiven Hinweis auf eine gewachsene Sensibilität im Umgang mit Grenzverletzungen und als Ausdruck dafür, dass nicht mehr weggeschaut wird, sondern missbräuchliche Verhaltensweisen im Interesse der Betroffenen aufgedeckt werden.
"Der unabhängige Missbrauchsbeauftragte des Bistums Speyer Ansgar Schreiner untermauert diese Beobachtung mit konkreten Zahlen. Während bei den beiden Missbrauchsbeauftragten des Bistums für den Zeitraum zwischen den Jahren 2000 und 2009 nur sieben Fälle gemeldet wurden, sind es für den Zeitraum zwischen 2010 bis heute insgesamt 28 Verdachtsfälle. "Wer grenzverletzendes Verhalten selbst erfährt oder in seinem Umfeld beobachtet, ist heute schneller bereit, die zuständigen Stellen in Kenntnis zu setzen", wertet auch Ansgar Schreiner die gewachsene Achtsamkeit positiv. Zugleich stellt er eine klare Veränderung hinsichtlich der beschuldigten Personen fest. Während sich bis zum Jahr 2000 der Tatverdacht in zwei Dritteln der Fälle gegen Priester richtete, lagen in den Jahren 2000 bis 2009 die Anschuldigungen gegen Priester und kirchliche Mitarbeiter in etwa gleichauf. "Seit dem Jahr 2010 haben wir ein anderes Bild. Nur in fünf der insgesamt 28 angezeigten Verdachtsfälle waren die Beschuldigten Priester. In den anderen Fällen handelte es sich zum Beispiel um Erzieherinnen, Pfleger oder ehrenamtliche Betreuer", geben die Missbrauchsbeauftragten Ansgar Schreiner und Dorothea Küppers-Lehmann Auskunft über ihre Tätigkeit."Darin zeigt sich, dass die Gefahr des Missbrauchs in ganz unterschiedlichen Lebenskontexten gegeben ist und die Fixierung auf Priester als Täter durch die Zahlen nicht bestätigt wird", stellen sie fest.Seit das Bistum Speyer im Jahr 2010 unabhängige Missbrauchsbeauftragte eingesetzt hat, wurden insgesamt 238 Verdachtsfälle überprüft. Bei etwa einem Drittel ergab sich der Verdacht aus einer Durchsicht aller Personalakten des Bistums bis ins Jahr 1912. In den übrigen Fällen nahm die Untersuchung von einer persönlichen Mitteilung an die Missbrauchsbeauftragten ihren Ausgang. "Das Bistum meldet jeden Verdachtsfall umgehend der Staatsanwaltschaft", betont Ansgar Schreiner. Die Prüfung durch die Staatsanwaltschaft komme häufig zu dem Schluss, dass der Fall bereits verjährt ist, kein hinreichender Anfangsverdacht besteht oder es sich um Beobachtungen unterhalb der Schwelle einer strafrechtlichen Relevanz handelt. "Nicht jeder Verdachtsfall ist damit auch automatisch ein Missbrauchsfall", so Schreiner. Seit dem Jahr 2000 seien nur zwei Tatverdächtige rechtskräftig verurteilt oder zu einer Geldzahlung verpflichtet worden. Dabei habe es sich um einen Priester und einen Sozialpädagogen gehandelt. "Leider steht einer strafrechtlichen Ermittlung bei Verdachtsfällen, die weit in der Vergangenheit liegen, oftmals die Verjährung der Tat entgegen", erklärt Ansgar Schreiner, der früher als Direktor des Ludwigshafener Amtsgerichts tätig war. Er ruft alle Betroffenen auf, sich möglichst zeitnah bei den Missbrauchsbeauftragten des Bistums zu melden.Den Opfern hat das Bistum Speyer mit der Übernahme von Therapiekosten und der Zahlung von Unterstützungsleistungen "in Anerkennung des erfahrenen Leids" tatkräftig geholfen. "Insgesamt hat das Bistum Speyer dafür bisher rund 315.000 Euro aufgebracht", erläutert Schreiner. Die Zahlungen seien auch in Fällen gewährt worden, in denen der Verdacht nicht eindeutig juristisch geklärt werden konnte. "Wir haben uns jedoch dafür entschieden, den Betroffenen auch in diesen Fällen Glauben zu schenken und finanziell zu helfen", unterstreicht Dorothea Küppers-Lehmann, die zweite Missbrauchsbeauftragte des Bistums. In jüngster Zeit hätten sich vermehrt Betroffene gemeldet, die einen sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie oder in außerkirchlichen Kontexten erfahren haben. "Wir helfen auch in diesen Fällen und knüpfen für die Betroffenen den Kontakt zu anderen Beratungsstellen und Hilfsorganisationen."An die strafrechtliche Ermittlung schließt sich eine kirchenrechtliche Aufarbeitung an. Seit 2010 wurden sechs Priester, die im Verdacht einer sexuellen Grenzüberschreitung standen, mit dem Verbot belegt, Gemeindegottesdienste zu feiern oder sich Kindern und Jugendlichen zu nähern.Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann führt Gespräche mit BetroffenenDer Speyerer Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann hat in den vergangenen Monaten zahlreiche Gespräche mit Menschen geführt, die im Raum der Kirche einen Missbrauch erlitten haben. "In den Begegnungen wird mir eindringlich bewusst, wie wichtig das Zuhören, Wahrnehmen und Ernstnehmen der Lebensgeschichten der Betroffenen ist. Jedes Gespräch ist für mich eine erschütternde Erfahrung", berichtet Bischof Wiesemann. Weil die Täter Priester oder kirchliche Mitarbeiter waren, werde mit dem Missbrauch meistens nicht nur das Vertrauen in Menschen, sondern auch das Gottvertrauen zutiefst verletzt. Auch wenn der Missbrauch häufig lange zurückliege, werde in den Gesprächen die lebenslangen Konsequenzen unmittelbar spürbar. "So wird das Ausmaß des Verbrechens des Missbrauchs erahnbar." Das Versagen der Kirche an so vielen verantwortlichen Stellen schmerze ihn sehr, bekennt Bischof Wiesemann. "Es zeigt mir, wie wichtig es ist, Kirche und Welt aus der Perspektive der Opfer zu sehen, ihnen zu glauben und sich entschlossen für einen Wandel hin zu einer konsequenten Kultur der Achtsamkeit einzusetzen."Beraterstab treibt Aufarbeitung und Prävention konsequent voranAuf Initiative von Generalvikar Andreas Sturm trifft sich seit Anfang des Jahres monatlich ein Beraterstab, um die Maßnahmen zur Aufarbeitung und Prävention zielstrebig weiterzuentwickeln und damit Zuarbeit für die von Bischof Wiesemann im Herbst des vergangenen Jahres gegründete Arbeitsgruppe "Missbrauch und Prävention" zu leisten. "Aktuell sind wir auf der Suche nach einem Partner für die sozialwissenschaftliche Aufarbeitung des Missbrauchs im Bistum Speyer. Das Ziel dabei ist, die Grundmuster der Täter zu erkennen und ihnen eine wirksame Prävention entgegensetzen zu können", erklärt Generalvikar Sturm. Dabei nimmt das Bistum Maß an den Kriterien für eine wissenschaftliche Aufarbeitung, die derzeit vom Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung entwickelt werden.Kirchliche Präventionsarbeit durchdringt immer mehr Arbeitsfelder"Das Ziel all unserer Bemühungen ist der wirksame Schutz von Kindern, dazu gehört auch eine stetige Verbesserung unserer Prävention", hebt Andreas Sturm hervor. Rund 2.200 kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in verschiedenen Arbeitsfeldern des Bistums Speyer haben inzwischen an Präventionsschulungen teilgenommen, von der Seelsorge bis hin zu den kirchlichen Schulen und den katholischen Kindertagesstätten. Die Einrichtungen der Jugendhilfe arbeiten inzwischen mit speziellen Kinderschutzkonzepten, auch für 25 kirchliche Schulen wurden mittlerweile Präventionsfachkräfte ausgebildet. Die Abteilung Jugendseelsorge und die Verbände unter dem Dach des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) setzen seit Jahren einen klaren Schwerpunkt auf das Thema Prävention. Insgesamt 1350 ehrenamtlich Engagierte haben an den bisherigen Schulungen teilgenommen. Bei jeder großen Aktion, sei es die Ministranten-Wallfahrt nach Rom oder die 72-Stunden-Aktion, werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch Schulungsangebote für das Thema Kinderschutz und Prävention noch einmal eigens sensibilisiert. Mit sieben Präventionsfachkräften ist der Anteil in der Abteilung Jugendseelsorge besonders hoch und zeigt den Stellenwert an, den die Präventionsarbeit einnimmt.Kontakte und weitere Informationen unter:https://www.bistum-speyer.de/rat-und-hilfe/hilfe-und-praevention-von-sexuellem-missbrauch/